Ringel, Erwin

* 27. 4. 1921, Temesvár, Ungarn (heute Timişoara Timisoara , Rumänien)
† 28. 7. 1994, Bad Kleinkirchheim (Kärnten)
Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe

Die Eltern lebten zwar in Hollabrunn, doch seine Mutter fuhr zur Entbindung in ihr Elternhaus nach Temesvar (Timișoara). Die ersten Lebensjahre verbrachte er in Hollabrunn.

1926 übersiedelte die Familie nach Wien in die Annagasse. Sein Vater war als Mittelschullehrer in der Lehrerbildungsanstalt Hegelgasse tätig. Die Nähe zur Wiener Staatsoper und zu den großen Theatern erleichterte es dem neugierigen Jugendlichen, sich profunde Kenntnisse der Opern - und Theaterliteratur anzueignen. Eines seiner Lieblingsspiele war es, schlagfertig Klassiker zu zitieren.

Von 1931 bis 1939 besuchte Ringel das Akademische Gymnasium.

1939 wurde er für einige Wochen von der Gestapo in Haft genommen, weil er am 8. Oktober 1938 bei der antinationalsozialistischen Großkundgebung am Stephansplatz als Pfarrjugendhelfer mitgearbeitet hatte.

1939 begann er sein Medizinstudium, wurde aber wiederholt von der Deutschen Wehrmacht einberufen. In den letzten zwei Kriegsjahren konnte er im Reservelazarett 11A (Rudolfspital) bereits ärztlich tätig sein.

1941 war es ihm gelungen - nachdem er auf einen Vorgesetzten und auf Hitler geschimpft und seinem Kommandanten das Gewehr vor die Füße geworfen hatte - mit Hilfe zweier befreundeter Ärzte aufgrund 'psychiatrischer Probleme' (offiziell wegen einer Schilddrüsenüberfunktion) von der Wehrmacht entlassen zu werden. Damals wurde erstmals sein Interesse für die Psychiatrie geweckt.

So konnte sich Ringel wieder auf sein Medizinstudium konzentrieren. 1946 promovierte er und absolvierte anschließend seine Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und eine psychotherapeutische Ausbildung als Individualpsychologe.

Ringel schätzte v.a. die Schule A. Adlers, aber auch die S. Freuds. Zeitlebens versuchte er diese beiden konkurrierenden Schulen der Psychoanalyse mit seiner eigenen Neurosenlehre zu vereinigen.

1948 erfolgte der Aufbau des ersten Selbstmordverhütungszentrums Europas im Rahmen der Wiener Caritas. Aus dieser „Lebensmüdenfürsorge“ wurde 1975 das von der Kirche unabhängige „Kriseninterventionszentrum“, das heute noch in Wien existiert. Ringel beschrieb 1953 das „Präsuizidale Syndrom“, nachdem er 745 gerettete Selbstmörder untersucht hatte. Dies gilt heute als ein Meilenstein in der Selbstmordforschung.

Von 1953 bis 1964 wurde er von seinem Chef Hans Hoff mit der Leitung der Frauenabteilung an der Psychiatrischen Universitätsklinik Wien betraut. 1954 baute Ringel die erste psychosomatische Station in Österreich auf. Als Vorkämpfer für die psychosomatische Medizin musste er viele Widerstände überwinden. Durch zahlreiche Vorträge hat er in der Bevölkerung wichtige Aufklärungsarbeit geleistet, und auch in der Ärzteschaft erhielt er allmählich für die Psychosomatik Akzeptanz. Seit 1987 können Ärzte durch eine spezielle Ausbildung in Psychosomatik das „Diplom für psychosomatische Medizin“ erhalten.

1960 gründet er die "Internationale Vereinigung für Selbstmordverhütung" (IASP) Er wurde deren erster Präsident bis 1969 und später Ehrenpräsident. Heute gehören der IASP mehr als 50 Länder an. In der USA nannte man Erwin Ringel liebevoll "Mr. Suizid".

Ab 1960 baute Ringel gemeinsam mit Walter Spiel und Kurt Baumgärtl den Österreichischen Verein für Individualpsychologie, der infolge des Verbots der Individualpsychologie im Dritten Reich auf wenige Mitglieder zusammengeschrumpft war, wieder neu auf. Von 1960 bis 1988 war er Präsident dieses Vereins. Auf Veranlassung seines Schülers und Mitarbeiters Gernot Sonneck begann Ringel sich systematisch um die Ausbildung junger Individualpsychologen zu kümmern[2]. Heute ist der „Österreichische Verein für Individualpsychologie“ eine bedeutende tiefenpsychologische Schule. Eine seiner wichtigen Aufgaben sah Erwin Ringel auch darin, die „Freudianer“ mit den „Adlerianern“ zu versöhnen.

Mit seinem Engagement für Minderheiten bekam Ringel immer wieder starken Widerspruch zu spüren. Ringel meinte, dass man die Gesellschaft zwar vor gewissen Verbrechern schützen muss, aber auch, dass jedes Verbrechen ein Gebrechen ist.

1961 erreichte Ringel die Habilitation. Im selben Jahr wurde ihm der Karl–Renner–Preis der Stadt Wien für seine Verdienste in der Selbstmordverhütung verliehen. 1968 wurde er zum Außerordentlichen Professor an der Universität Wien ernannt. Ringel war 1971 Gründungsmitglied des Internationalen Kollegiums für Psychosomatik. 1978 gründete er die Österreichische Gesellschaft für klinische psychosomatische Medizin und wurde zu deren Präsidenten gewählt.

1981 wurde Erwin Ringel zum Ordentlichen Professor für Medizinische Psychologie berufen. Er baute als 60-Jähriger noch einmal etwas Neues auf. Denn das Fach „Medizinische Psychologie“ wurde erst 1981 in das medizinische Curriculum aufgenommen. Er war ein enthusiastischer Lehrer, der auch so manche seiner Studenten begeistern konnte. Er hatte endlich die Möglichkeit, zu allen Medizinstudenten über die Wichtigkeit der seelischen Befindlichkeit der kranken Menschen und über die Bedeutung der Arzt-Patienten-Beziehung zu sprechen. Er war Institutsvorstand bis zu seiner Emeritierung 1991.

Von 1984 bis 1994 war Ringel Obmann des Vereins für Bewährungshilfe und Sozialarbeit. 1984 brachte sein Buch Die Österreichische Seele einen großen medialen Erfolg, aber auch zahlreiche Anfeindungen. In diesem Zusammenhang erhielt er viele Beinamen: von „Seelendoktor der Nation“ bis hin zu „Nestbeschmutzer“.

1986 erhielt Ringel das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse sowie das Goldene Ehrenzeichen für die Verdienste um das Land Wien. Im Jahre 1987 publizierte er sein Buch „Die ersten Jahre entscheiden“, in dem er auf die Wichtigkeit einer liebevollen und guten Erziehung hinweist. 1991 wurde er zum Bürger der Stadt Wien ernannt.

Am 28. Juli 1994 starb Erwin Ringel in Bad Kleinkirchheim an Herzversagen. Er ist in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof (Gruppe 33 G, Nummer 3) bestattet.

Am 12. Mai 1998 wurde auf Gemeinderatsbeschluss die Parkanlage am Schlickplatz in Erwin-Ringel-Park umbenannt und dort ein von Josef Zenzmaier gestaltetes Denkmal zu Ehren Erwin Ringels aufgestellt.

Medizinische Errungenschaften

Ringels Interesse galt von Beginn an unbequemen, provokanten und schwierigen Themen, dennoch wurde er damit zum Medienstar und Bestsellerautor. Sein besonderes Anliegen war Schwache und Unterdrückte gegen staatliche und kirchliche Autoritäten zu verteidigen.

1948 gründet Ringel das erstes Selbstmordverhütungs-Zentrum der Welt und beschreibt 1953 das so genannte „Präsuizidale Syndrom“ anhand von Untersuchungen an über 700 geretteten Selbstmördern, das als Alarmsignal einer suizidalen Gefährdung gilt. Der Selbstmord ist in Ringels Augen das Ende einer krankhaften Entwicklung, die verhindert werden kann. Dies brachte ihm immer wieder großen Ärger mit den kirchlichen Autoritäten ein, die Suizid als Todsünde betrachteten und Selbstmördern eine Grabstätte in geweihter Erde auf einem katholischen Friedhof verweigerten. Das „Präsuizidala Syndrom“ wird heute noch in der Selbstmordverhütung weltweit als gültiger Indikator zur Erkennung der Selbstmordgefahr anerkannt und verwendet.

Nachdem schließlich die Änderung des Kirchengesetzes doch noch veranlasst worden war, beschreibt Ringel seine Gefühle mit den Worten "Das kirchliche Rechtsbuch zu verändern, ist eine so große Tat, womit nur vergleichbar wäre, die Alpen von Mitteleuropa nach Afrika zu verschieben".

Der Clinch mit der Kirche wurde dennoch nicht beigelegt, als der tief religiöse Ringel in seinem Buch "Religionsverlust durch religiöse Erziehung" 1985 die neurotisierende christliche Erziehung anprangert.

Auch das Thema Psychosomatik interessiert Ringel. Er gründet die erste psychosomatische Klinik in Österreich. Er absolvierte häufig Vortragsreisen quer durchs Land um auch dem Volk mehr Wissen zukommen zu lassen. In seiner Arbeit mit Häftlingen zeigte sich Ringels soziales und gesellschaftspolitisches Engagement noch deutlicher.

Seine besondere Liebe galt auch der Kindererziehung und dem Grenzgebiet zwischen Psychologie, Kunst und Religion (brachte sogar einen Opernführer heraus).

Auszeichnungen, Ehrungen (Auswahl)

1960-88 Präsident des "Österreichischen Vereins für Individualpsychologie"

1961 Karl-Renner-Preis der Stadt Wien

1968 Ernennung zum Außerordentlichen Professor der Universität Wien

1971 Gründungsmitglied des Internationalen Kollegiums für Psychosomatik

1978 Gründung der Österreichischen Gesellschaft für klinische psychosomatische Medizin und Wahl zu deren Präsidenten

1985 Ehrenpräsident der Internationalen Vereinigung zur Selbstmordverhütung

1986 Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse

1986 Goldenes Ehrenzeichen für die Verdienste um das Land Wien

1986 Ernennung zum "Bürger von Wien"

1988 Hans-Prinzhorn-Medaille

Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof (Gruppe 33G), Haupteingang Tor 2

Das Ringel-Denkmal im hinter der Rossauerkaserne gelegen Erwin-Ringel-Park (Schlickplatz, 1090; ehem. 'Beserlpark', gegründet 1902) wurde am 27. April 1999 feierlich eingeweiht.

Der Zorn des Erwin Ringel

Die Presse SPECTRUM, 24. Juli 2004

Es gibt in Wien eine Hansi Niese-Gasse und einen Hansi Niese-Weg. Die beiden liegen an entgegengesetzten Enden der Stadt, und wer in die Gasse will, aber am Weg landet, hat eine beträchtliche Irrtumsstrecke vom einen zum anderen zurückzulegen. Erwin Ringel wusste davon ein Lied zu singen, weil er zu seinem Pech in der Hansi Niese-Gasse wohnte, weswegen seine Besucher zuweilen mit gewaltiger Verspätung eintrafen. In seiner berühmtesten Rede hat Ringel auf die doppelte Niese im Wiener Straßenverzeichnis hingewiesen und an das Denkmal erinnert, das Karl Kraus der Niese in „Die letzten Tage der Menschheit“ gesetzt hat: die Volksschauspielerin als gemeine Hetzpatriotin während des Weltkriegs. Daran fügt Ringel den berechtigten Hinweis: „Vergeblich wird man aber in der Stadt eine Straße, einen Platz suchen, der nach Freud oder nach Adler benannt ist.“

Die Lokalgröße Niese zweimal, die Weltgrößen Sigmund Freud und Alfred Adler nie: warum ist das so? Ringel beklagt, wie mies dieses Land mit seinen Größten umgeht, nimmt Gustav Mahler und Karl Kraus noch dazu, weist darauf hin, dass alle vier Juden waren, und gelangt zu einer Schlussfolgerung, die einem in ihrer apodiktischen Schärfe den Atem raubt: das alles habe „ganz wesentlich mit dem heute hier immer noch lebendigen Antisemitismus zu tun, der geradezu als ein Charakteristikum des Österreichers zu bezeichnen ist.“

Das war am 26. Oktober 1983, dem österreichischen Nationalfeiertag. Ringel hielt „Eine neue Rede über Österreich“ für die Wildgans-Gesellschaft in einem Saal des Wiener Musikvereins. Er nahm darin wiederholt auf Anton Wildgans´ „Rede über Österreich“ 1929 Bezug, bezeichnete diese als „das Schönste, was bisher über Österreich geschrieben wurde“, um Wildgans anschließend gnadenlos Punkt für Punkt zu dementieren. Doch zwischendurch bekennt er trotzig seine Liebe zu diesem Dichter, wohl wissend, dass Wildgans im österreichischen Literaturhimmel nicht mehr viel zählt.

Den Plan zu dieser Rede hatte Erwin Ringel jahrelang in seinem Inneren gewälzt, aber als er sie dann hielt, sprach er frei, ohne Manuskript. Und die Rede wäre auch gar nicht erhalten, hätte sie nicht Dolores Bauer für das ORF-Radio aufgezeichnet. Im Jahr darauf bildete sie das Kernstück von Ringels erfolgreichstem Buch: „Die österreichische Seele. 10 Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion.“ Damit wurde Erwin Ringel zum Seelendoktor der Nation, und Will Quadflieg konnte in einer Laudatio über Ringel im November 1984 sagen: „Jede Nation sollte dankbar sein für Männer, die etwas wie das Gewissen eines Volkes darstellen. Wir Deutschen haben Heinrich Böll, und ihr Österreicher habt Erwin Ringel.“

Die Nation war auch dankbar – aber nicht nur. 1994, im Todesjahr Erwin Ringels, lag „Die österreichische Seele“ in der 11. Auflage bei 78.Tsd. – für österreichische Verhältnisse als Sachbuch ein Megaseller. Aber gleichzeitig gab es viele und wütende Angriffe. Das ist auch kein Wunder, wenn man das Land kennt und Ringels öffentliches Wirken in den letzten Jahrzehnten seines Lebens analysiert.

„Eine neue Rede über Österreich“ bietet sich dafür als ideales Beispiel an, weil es wohl Erwin Ringels bekanntester Text ist und weil es wie in einer Nussschale alle großen Themen seines Lebens vereint: Suizid, Erziehung, Neurose, Angst, Selbstzerstörung, Adler und Freud, Antisemitismus, Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, Oper, Literatur, Franz Joseph, Dollfuß, Katholische Kirche – und das alles aufs Engste verknüpft mit dem Land seiner Liebe und seines Zorns: Österreich.

Erwin Ringel war ein glühender österreichischer Patriot – lange ehe der österreichische Patriotismus in schlechte Gesellschaft geraten ist mit „Österreich zuerst“, „Österreich den Österreichern“ und ähnlichem Schmutz. Ringels lebenslange Bewunderung für den ermordeten Dollfuß, um den er als Kind bitterlich geweint hatte, ist auf sein Österreichbewusstsein zurückzuführen. Gleichzeitig bezeichnet er Dollfuß als Demokratiezerstörer und Arbeitermörder, plädiert aber doch dafür, nicht nur diesen Dollfuß der Galgen zu sehen, sondern auch den anderen, den Märtyrer, den bewussten Österreicher. Dahinter steht die zentrale Erfahrung im Leben des Erwin Ringel: der Nationalsozialismus.

An der antinationalsozialistischen Christkönigsdemonstration der Katholischen Jugend auf dem Wiener Stephansplatz am 7. Oktober 1938 hat er teilgenommen, gemeinsam mit seinem lebenslangen Freund Friedrich Heer. Danach wurde der 17-jährige als einer der Mitorganisatoren für einige Wochen in Gestapohaft auf dem Wiener Morzinplatz genommen. Auf Grund seiner Jugend und der Ratschläge eines älteren, später hingerichteten kommunistischen Mithäftlings, wie er sich bei den Verhören zu verhalten habe, kam er wieder frei. Die radikale Ablehnung des Nationalsozialismus blieb und hat sein Leben als historische Erfahrung wesentlich geprägt.

Daraus resultiert sein zorniger Umgang mit dem jahrzehntelangen weit verbreiteten Verdrängen der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die zitierte Österreich-Rede am Nationalfeiertag 1983 fand zweieinhalb Jahre vor dem Beginn des Streits um Kurt Waldheim und um unsere verschwiegene Nazigeschichte statt, nimmt aber bereits viele Themen, die die Öffentlichkeit dann jahrelang beschäftigen sollten, ahnungsvoll vorweg. Und nimmt auch den wütenden Tonfall der Waldheimjahre vorweg. Dass der Antisemitismus „geradezu als ein Charakteristikum des Österreichers zu bezeichnen ist“, würde heute kaum jemand so generell behaupten – auch wenn Ringel eine Reihe von Belegen für seine These anfügt und auch wenn er eingangs feststellt, weit verbreitete österreichische Phänomene beschreiben zu wollen, die natürlich nicht für jeden einzelnen zutreffen. Das war der Tonfall des Streits, der ab 1986 Österreich gespalten hat, ein notwendiger und letztlich fruchtbarer Streit, den der Seelendoktor bereits Jahre zuvor angezündet hat. Und in diesem Streit war auf beiden Seiten mit der äußersten Schärfe, oft auch überzogen, argumentiert worden. Der Vorwurf des „Nestbeschmutzers“, „Österreichvernaderers“ traf daher auch diejenigen, die das Land aus Liebe kritisierten, um es zu verändern. Erwin Ringel hat das wiederholt erfahren.

Erwin Ringel war – dank des Elternhauses – ein unglaublich gebildeter Mensch mit tiefer Liebe zur Kunst. Noch im Alter hat er Opernlibretti, die er als Kind gelesen hatte, auswendig gewusst, war ein profunder Kenner der österreichischen Literatur, und insbesondere der Lyrik zugetan. Es gab viele freundschaftliche Kontakte mit Künstlern. Mit Erich Fried gemeinsam ist er im April 1985 im Wiener Konzerthaus aufgetreten zum Thema „Tiefenpsychologie und Friede“.

Ein Charakteristikum seiner Arbeit ist es nämlich, dass er immer wieder Fragen der Kunst mit seiner eigenen Wissenschaft reflexiv verknüpft hat: „Das Selbstmordproblem bei Schnitzler“, „Die Darstellung der Depression in der Oper“, „´Winterreise` und Todestrieb“, „Torbergs ´Schüler Gerber` und seine Bedeutung für die moderne Selbstmordverhütung.“ Das ist lediglich eine kleine Auswahl aus diesen Texten. Ich erinnere mich an einen Club 2 zum Thema Schülerselbstmord, den ich moderiert habe, mit Erwin Ringel und Friedrich Torberg. Es war ein höchst intensives Gespräch, in dessen Verlauf Torberg meinte, viel habe sich seit seinem „Schüler Gerber“ wohl nicht geändert. Dagegen gab es berechtigten Widerspruch.

Der Suizid ist das zentrale Thema im wissenschaftlichen Oeuvre Erwin Ringels. Bereits 1948 als junger Arzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Wien baut er das erste Selbstmordverhütungszentrum Europas auf. Er hat den Selbstmord als allerletzten vergeblichen Hilfeschrei definiert, hat das „präsuizidale Syndrom“ erforscht, hat Krankheitsbilder mit Selbstmordtendenz beschrieben und sich vor allem mit möglicher Hilfe für Gefährdete befasst. Auch das zweite große Thema im Lebenswerk Erwin Ringels spielt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle: Erziehung, sowohl im Elternhaus wie auch in der Schule. Immer wieder, auch in der Österreich-Rede, hat er sich damit auseinandergesetzt, wie Kinder zerstört werden: „Sicher, es wachsen hier auch gesunde Kinder heran, es wäre ja entsetzlich, wenn es das gar nicht mehr gäbe! Aber die Mehrzahl wird in der Lebensentfaltung und -gestaltung behindert, ja oft zerstört, es resultieren gequälte, gedemütigte, gebrochene Menschen, deren Lebensfreude erlischt.“ Dieser Spannungsbogen von misslingender Erziehung zum Suizid ist für Ringel besonders bedeutsam. Damit nimmt er aber dem Selbstmord dieses Odium von Schande und Sünde, das er bis dahin an sich hatte. Auch die Katholische Kirche ist nun gezwungen, ihre Haltung zum Selbstmord zu überdenken.

Für Erwin Ringel als gläubigen Katholiken ist das wichtig. Er hat zeitlebens auf seine Kirche gehofft, sich aber auch zeitlebens an ihr gerieben. Er bezeichnet sie als Institution mit „neurotischen“ Strukturen und mit Selbstbeschädigungstendenz und er ging so weit, gemeinsam mit Alfred Kirchmayr ein Buch zu schreiben, das „Religionsverlust durch religiöse Erziehung“ heißt. Der Vorspann dazu lautet: „Gewidmet allen, die an der Kirche leiden.“ Das war bei Ringel selber zweifellos der Fall.

Er hat Tabuthemen angepackt, hat sie öffentlich gemacht und damit die Verdrängung aufgehoben. Indem er den Suizid einer genauen wissenschaftlichen Beschreibung unterzogen hat, konnte ab nun anders darüber gedacht und geredet werden. Oder: Schon lange vor dem Streit um Waldheim hat er sich mit dem österreichischen Opfermythos befasst, der ja nicht nur den öffentlichen Umgang mit der verschwiegenen Nazigeschichte geprägt hat, sondern für viele in ihrem ganzen Selbstverständnis lebensbestimmend und massiv lebensbeschädigend geworden ist. In der Österreich-Rede heißt es: „der Österreicher ist durch nichts so leicht zu fangen, als wenn man ihm sagt: ´Du bist ein ungerecht Behandelter, ein Getretener und Unterdrückter, ich aber werde kommen und dich aus dieser Not und aus diesem Elend befreien!´ Da fühlen sich alle mit einem Mal angesprochen, weil sie dieses Gefühl seit der Kindheit – bewusst oder unbewusst – mit sich schleppen.“

Das war 1983. Der Aufstieg der FPÖ unter Haider einige Jahre später ist damit exakt vorausgesagt. Aber es ist schon klar, dass eine so verbreitete individuelle Befindlichkeit auch eine Vielzahl anderer gesellschaftlicher und privater Auswirkungen hat. Vor diesen hat Erwin Ringel immer wieder gewarnt. Unermüdlich ist er aufgetreten, hat ermahnt, hat geschimpft, hat neue Wege gewiesen. Das war das Katholische an ihm, ein neuer Abraham a Sancta Clara, in der Sprache ebenso wortmächtig und deftig. Er war kein Politiker, aber ein hochpolitischer Mensch. Als Idiot – darauf hat er gerne hingewiesen – galt bei den Griechen der Antike derjenige, der nicht am gesellschaftlichen Leben interessiert ist. Er dagegen schien mit seinem gesellschaftspolitischen Engagement immer wieder die Grenzen seines Fachs zu sprengen.

„Schuster, bleib bei deinem Leisten!“ wurde ihm daher wiederholt von empörten Zeitgenossen geschrieben. Er hielt dagegen, gemeinsam mit seinen Kollegen Friedrich Hacker, Paul Parin, Host Eberhardt Richter und Hans Strotzka sei er überzeugt, Psychotherapie habe „nicht nur einzelne Patienten zu behandeln, sondern sich auch um die Verbesserung der Gesellschaftsstruktur zu bemühen.“ In diesem Sinne verstand er sich selber als Aufklärer, der seinen Beitrag leisten wollte zum Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.

Der Stillstand war ihm verhasst, weil er jede Chance auf Verbesserung abschneidet. Mit Abscheu zitiert er den Spruch auf Kaiser Franz Josephs Schreibtisch: „In jedem Ding der Welt, ob es tot ist oder atmet, lebt der große weise Wille des allmächtigen und allwissenden Schöpfers. Wie alles ist, so muss es sein in der Welt. Und wie es auch sein mag, immer ist es gut im Sinne des Schöpfers.“ Für Ringel ist das „der schreckliche Ausdruck einer Statik“. Auf seinem eigenen Schreibtisch dagegen stand ein Autograph von Emile Zola: „La vérité est en marche et rien ne l´ arretera.“

Das ist der Ausdruck eines historischen Optimismus, der ihn bis zum Schluss beseelt hat trotz Alter, Rollstuhl und Krankheit. Und wenn er sich selber einmal als „Sisyphus in Österreich“ bezeichnet hat, der immer wieder denselben Stein denselben Hang hinaufzuwälzen hat, dann sollten wir an den berühmten Satz von Albert Camus denken: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Vor zehn Jahren, am 28. Juli 1994, ist Erwin Ringel im Alter von 73 Jahren gestorben.